ihr.

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Sonntag, 25. Dezember 2011

pieks und das rauschen der wellen.

Als das Schiff unter Rumpeln im Hafen anlegte, legte Mimi einen Lederhandschuhfinger an die Lippen und machte: „Hm.“ Etwas war anders als sonst. Als würde etwas in der Luft liegen, mehr Salz vielleicht, mehr Möwenscheiße, mehr Wolkenfluff. 

„Hm.“ Sie kam nicht drauf.

Die Matrosen manövrierten das Schiff gegen die Kaimauer und warfen den Anker.
Mimi saß mit hochgeschlagenem Mantelkragen auf der Mole und beobachtete, wie die Männer von Bord gingen.
„Hässlich, hässlich, hübsch, zu dünn, zu blass, zu hässlich...“

„Hallo.“

„Huch!“ Wo kam das denn her?

„Hier, neben dir.“

Sie sah sich um, und fast hätte sie sich an ihrem Lederhandschuhfinger verschluckt. Da stand der Kapitän des Schiffes, der eigentlich viel zu jung und schön war, um ein Kapitän zu sein, und haute ihr sein schönstes Sonntagslächeln um die Ohren. Durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen pfiff der Wind. Mimi hatte es die Sprache verschlagen. Das kam nicht oft vor, aber wenn, dann richtig. 
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, etwas Interessantes, etwas Kapriziöses, etwas, das den jungen Kapitän in ihr rosarotes, windschiefes Haus auf dem Erdhügel locken würde. Heraus kam nur ein Fiepen, umhüllt von einem Krächz mit Räusper.

„Ich kenne dich“, sagte der Kapitän. „Aus der echten Welt. Erinnerst du dich?“

Ja, ja, natürlich! An seine Nase erinnerte sie sich. Die krauste sich so seemännisch mit dem Wind, mal nordwärts, mal südwestlich. Und an seine Stimme. Die war sanft und ein Versprechen. Alles andere war verschwunden. 

„Ich habe vergessen, wie du heißt“, stellte Mimi betrübt fest.

„Macht nichts. Hier im Hafen bin ich der Captain.“

„Und wie heißt dein Schiff?“

„Steht doch da.“

„Ich bin leider hart kurzsichtig, Captain.“

„Mein Schiff ist die BIFFY CLYRO.“
Er sagte es ehrfurchtsvoll in VERSALIEN.

„Möchtest du eine Tasse Tee, Captain? Und ein Stück Kuchen dazu?“
Sie wollte ihn locken, denn er gefiel ihr. Doch jedes ihrer Worte klang klein und dünn und gar nicht verführerisch.

„Ja, Tee mit Rum wäre gut.“

Etwas später saßen sie in einer Ecke des einzigen Cafés im Hafen. Das Holz war dunkel, die Schürzen der Bedienungen so weiß, dass sie Mimi blendeten. Zum Kaffee und Tee gab es gezuckerte Waffeln, dazu Anstand auf einem Extrateller und ein Löffelchen Mädchenscheu.

Der Kapitän, der sich Captain nannte, erzählte von seinen Reisen und den Menschen und Monstern, denen er in all den Jahren auf See schon begegnet war. Das beeindruckte Mimi sehr. Weil sie ja festsaß, hier im Hafen, unter all den Verrückten. 
Als sich Mimi gerade eine Waffel in den Mund gestopft hatte und vergeblich versuchte, das goldgelbe Ding in einem Haps herunterzuschlucken, beugte er sich zu ihr und verriet: „Manchmal vermisse ich zu Hause.“

„Wo ifft Fuhaufe?“, fragte Mimi mit vollen Backen.

„Im Norden. Am Meer.“

Als der Captain von seinem Onkel erzählte, der ein großer Abenteuer sei, aber leider ab und an verloren ginge, so dass sich alle Sorgen machten und ihn tagelang suchten, passierte es wohl. 
Ob es an der Geschichte vom verschwundenen Onkel lag, oder daran, wie der Captain von ihm erzählte, mit Traurigkeit in den Augen und schwerer Zunge, daran, wie er Mimi in diesem Moment ansah oder daran, wie sich seine Nase unbewusst Richtung Rum kräuselte – die Madame vom Hafen fühlte einen Stich, einen Pieks. Genau dort, wo früher einmal ihr Herz geschlagen hatte. Und weil da drin jetzt alles ganz rot und wund und leer war, schmerzte der Stich sehr. Automatisch griff sich die Madame an die Stelle, an der es stach, kratzte vorsichtig und sah dabei den Captain an. 

„Du hast mich gepiekst, Captain“, murmelte sie und schämte sich, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dass er ihre Hand nahm und sie festhielt.

„Juckt es?“


„Ja.“


„Bei mir auch. Du hast mich schon mal gepiekst. Aber das ist schon lange her. Bestimmt hast du es vergessen.“


Mimi starrte auf ihre Schuhe. Das alles kam ihr bekannt vor. Sie hatten schon einmal bei Kaffee und Tee und Waffeln in einer dunklen Ecke gesessen, sie kannte die Geschichte vom Abenteurer-Onkel und die Stimme des Captains war ihr so vertraut wie Herrn Katzenmanns leises Gurgeln, wenn er schlief. Aber woher kannte sie das alles?


„Mein Gedächtnis ist nicht besonders gut“, entschuldigte sie sich und sah noch immer zu Boden.


„Du hast alles vergessen, als du damals hierher gekommen bist, oder?“


„Ja.“


„Lass uns spazieren gehen.“


Leider war Mimis Gedächtnis wie ein Sieb mit viel zu großen Löchern. Alles, was sie sich nicht gleich mit einer Nadel ans Revers tackerte, rasselte da durch. Und so kam es, dass die Madame vom Hafen auch den Rest dieses Tages einfach so vergaß. Nein. Nicht alles.


Sie würde sich für immer und ewig daran erinnern, wie der Captain seine schwere, warme Jacke geöffnet hatte, als er bemerkte, dass das Mädchen, das nun eine verrückte Madame war und für das er die lange Reise in den Hafen auf sich genommen hatte, fror. So sehr, dass ihre Zähne klapperten. Er blieb stehen. Dann lud er Mimi und das Zähneklappern unter seine Jacke ein. Er sagte nichts. Mimi, die nur ein Kleidchen und einen dünnen Mantel trug, vergaß alle Vorsicht und damenhafte Contenance und drückte sich an den Captain. Wie gut sich das anfühlte, so wollte sie immer fühlen, sie wollte diesen fremden Mann nicht mehr loslassen, er war ihr Geliebter und ihr alles, aber sie hatte ihn geopfert für etwas, für ein Trugbild, sie hatte ihn verletzt und doch war er hier. Aber warum?


Da kam die Erinnerung an die alte, die echte Welt auf einen kurzen Sprung vorbeigehuscht. Mimi erschrak und sah dem Captain von unten aus der warmen Jacke direkt in die Forelle-blau-blauen Augen.


„Ich weiß, wer du bist! Du bist...“


„Tschühüüüüss!“, rief da die Erinnerung an damals, winkte mit dem knochigen Arm und verschwand auf Nimmerwiedersehen, bevor Mimi den Gedanken festhalten konnte.


Durch die Zahnlücke des Captains quetschten sich Worte, doch Mimi verstand sie nicht. Sie starrte ihn an. Für einen Moment war alles wieder da gewesen, die Erinnerung, das Wissen, dass sie nicht immer verrückt gewesen war. Ihr Herz. Es hatte ein Liebeslied gesungen mit seinem schrägen Stimmchen. Das klang schrecklich, aber es war doch für ihn!


„Mimi?“ Seine Hände strichen über ihre schwarzen Vogelnesthaare.


„Ich wusste nicht, dass mein Herz Liebeslieder singen konnte. Es hat für dich gesungen.“


Der Captain lächelte. „Manchmal hat es sogar dazu getanzt.“

Dann küsste er Mimi. Und sie küsste zurück, hielt ihn fest, so fest sie konnte.

Der Rest war Grau und Pieks und Wellenrauschen.

Freitag, 16. Dezember 2011

mimi loves to shop.


Weil schöne Dinge doch mein Liebstes sind... 
ein kleiner Tipp von Mimi, die heute nichts 
als eine blinkende Reklametafel um den Hals trägt.

Als Madame vom Hafen hatte Mimi es nicht leicht. Sie wollte immer besonders elegant und und ein Fitzelchen verrucht aussehen, schließlich hatte sie als feine Dame einen Ruf zu verlieren. Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen? Die Boutiquen im Hafen führten nur schreckliche Hosen mit Schlag und Matrosenhemden ohne Matrosen. 

Zum Glück gab es da dieses kleine Modelädchen, versteckt unter den Ästen einer Trauerweide. „Gothesque“stand auf einem rot-glitzernden Schild über dem Eingang. Das Lädchen war vollgestopft mit den schönsten Korsetts, Strümpfen, Fächern, Boas und Schuhen, zum Anbeten schön! Alles funkelte und duftete nach Kuchen. Zwei Katzen lagen auf einer samtenen Chaiselongue und begrüßten jeden Gast mit gemaunzten Volksliedern auf Italienisch und Schwedisch. 

“Hier ist es aber schön!”, dachte sich Mimi und strich über einen mit Pailetten besetzten Rock mit Schlitz. Sie griff in ihre Manteltasche, holte ihr Sparschwein heraus, zerschlug es auf dem Boden und verprasste all ihr hart Erspartes mit glühenden Wangen.

Und hier gibt es die wundervollen Schätze für Madames und Mademoiselles: Gothesque




Donnerstag, 15. Dezember 2011

selbsterkenntnis findet man manchmal zwischen wellenreitern und frechen fragen.

"Was glaubst du eigentlich, wer oder was du bist, Mimi vom Hafen?", fragte die Friesier-Salon-Löwin mit dem schönen lila Haar, die der Hafenmadame gerade den Kopf gewaschen hatte
Mimi faltete die Stirn zu einem Fragezeichen und grübelte noch, als alle Wellen und Locken bereits akkurat gelegt waren. Als sie die Frisierstube längst verlassen hatte, fiel ihr die Antwort ein: 

"Ich bin eine dieser altmodischen Kaffeetassen, diese gezierten und geblümten mit gespreizten Henkeln, das Prunkstück des Sonntagsservices. Leider fiel ich einem Bewunderer eines Tages aus den Händen. Von dem Sturz behielt ich einen irreparablen Riss, aus dem es tropfte, und man sortierte mich aus. Ja, das bin ich. Ein Kunststückchen aus alter Zeit mit einem Sprung in der Schüssel." 

Mimi trat vom einen Bein aufs andere. "Und außerdem weiß ich, was ich nicht bin. Ich bin erlogen und nur eine Erfindung, ich bin nicht echt und werd's auch niemals sein."

Mittwoch, 7. Dezember 2011

ein geschenk, wie schön!

Heut Morgen lag ein Geschenk vor meiner Tür. Es ist so hübsch verpackt und singt so reizend vor sich hin. Von wem es wohl sein mag? Jetzt pack ich's erstmal aus. ♥
 danke für das photo, http://pierrecopsey.fr/
 
 
 


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Dienstag, 6. Dezember 2011

gedichte ruinieren anständige leute.

mimi vom hafen und der boxer lagen rücklings im bootshaus und starrten an die decke. hier roch es gut, nach morschem holz, nach teer und ölfarbe. das olle linoleum unter ihnen keuchte und knarzte. draußen goss es kupferfarbenen regen aus rostigen eimern. von zeit zu zeit unterbrachen sie ihre konversation, um mit gespitzten ohren zu lauschen, wie das meerwasser gegen den bootssteg gluckste. sie unterhielten sich gerade über anstand, der boxer behauptete frech, er hätte welchen. nun, zumindest hätte er eine „anständige seite“.

mimi war überrascht: „ich dachte immer, die hättest du beizeiten in irgendeinem straßenkampf verloren.


„ach“, sagte der große mann da, „ich haue mich nicht mehr. ich lese nur noch gedichte.“ er zog die oberlippe richtung nase und dachte nach. „wenn ich es recht bedenke, ist das weitaus gefährlicher. gerade beim gedichtelesen kann man seine anständige seite verlieren.“


die madame sah den boxerfreund an. „ja, so siehst du aus. ein hilfloses opfer der poesie. arme, leichte schwere beute.“


der boxer sah wütend aus. über jemanden wie ihn machte man sich nicht lustig. mimi wusste, dass er ihr in momenten wie diesem gerne aufs maul gehauen hätte. sie wusste aber auch, wie reizend sie gerade aussah, wie sie da mit ihren quietschnassen wollstrümpfen und dem regenschweren kleid auf dem fußboden klebte. außerdem hing eine reihe falscher wimpern von ihrem rechten auge, der kleber vom regen aufgeweicht. das verlieh ihr etwas tollpatschig-dummes und sowas schlug nicht mal der boxer.


„ich lese viele pornographische bücher, und außerdem sehe ich den straßenkötern gern beim ficken zu. das solltest du auch mal ausprobieren. das fördert die moral ungemein.“


„du hast eine meise, mimi.“ der boxer schüttelte den kopf. er griff ein altes tuch aus einem drahtverschlag, bedeckte regenmimi damit und sagte: „wenn du krank wirst, stecke ich mich nachher noch an.“


mimi und ihre hängewimpern kicherten leise um die wette. kein gedicht der welt, so schlecht es auch sein mochte, würde dem schläger neben ihr den anstand nehmen.


auf eine seltsame weise beruhigte sie dieser gedanke.

mimis boxerfreund stiff chainey. 

Montag, 5. Dezember 2011

"morgen mach ich schluss!"

Es war eine Nacht im Dezember. Vielleicht auch schon ein Morgen, damals, in der echten Welt vor vielen, vielen Jahren, als Mimi es gerade so schaffte, den Schlüssel ins Schloss ihrer Haustür zu stecken und ihn umzudrehen, bevor sie über die Schwelle stolperte, dabei irgendwie die Tür hinter sich zuriss, und der Länge nach auf die Holzdielen schlug. Schön aufs lippenstiftverschmierte Schandmaul. 

Obwohl der Boden unter ihr eisekalt war und die Madame, die damals noch ein Mädchen war, die blauen Flecken auf Beinen und Bauch wachsen fühlen konnte, musste sie lachen. Dann kotzen und spucken, dann wieder lachen, mit den Haaren in der Pfütze aus Ekelsuppe mit Brocken. 

Mimi drehte sich auf den Rücken, glotzte mit glasigem Blick zur Decke und dachte an die vergangenen Stunden, daran, wie sie und Henriette in dieser Kaschemme getrunken und getanzt, vor allem aber getrunken hatten. An Henriettes Vinyl-Lippen, die nass vom Wodka glänzten und in denen Mimi sich festbeißen wollte, an die Augen der Freundin, die leer waren, fast schwarz und in denen Mimi sich selbst anstarrte: den unperfekten Idioten, der nicht funktionierte, der aber lebendig war und hungrig und der nie genug bekam, das verliebte Ding, das sie war, wenn Henriette sie ansah, die Verliererin, die jede Nacht zuviel trank und die es genoss. 

„Alkohol ist Liebe“, dachte Mimi da und lachte. Dann dachte sie an ihn und das Lachen verschluckte sich selbst.

Oh, wie er es hasste, wenn sie betrunken war. Er, dessen Herz sie geshreddert hatte, der Musiker mit dem schönen blonden Haar, der zu perfekt geworden war für sie, zu schnell, um noch hinterher zu kommen, ihre alte Liebe, die ausgeliebt und ausgeleiert war. Hihi. Pech gehabt. 

Mühsam und mit wackligen Beinen stand Mimi auf, wischte die Schminke ab, wusch das Gesicht, spülte die Kotze aus den Haaren, putzte die Zähne, zog sich auf dem Weg ins Schlafzimmer aus, ließ die Kleider dort liegen, wo sie zu Boden gefallen waren, legte sich nackt ins Bett und schlief mit einem Lächeln ein.



Ein Abend im Hafen und im Jetzt, genauer gesagt in Madame Mimis rosarotem und sehr windschiefem Haus auf dem Erdhügel.


Der Rum vor ihr auf dem Tisch glitzerte bernsteinfarben in der Flasche. Wie wunderhübsch er aussah. Gute, gute Medizin. Wie flüssiger Kandis. „Du bist mein Freund“, sagte Mimi mit schwerer Zunge und klopfte freundschaftlich aufs Etikett. „Könnte der doofe Alkohol lesen, würde ich ihm einen Liebesbrief schreiben“, dachte sich das Madamchen. „Wenn er ein Gehirn hätte oder wenigstens Ohren, würde ich ihm Danke sagen fürs immer da sein, wenn ich ihn brauche.“ Nicht nur damals, als eine alte Liebe kaputt ging und das Mimimädchen Trost in rauchigen Eskapaden suchte. Immer schon.


Mimi erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Als sie noch ganz klein war, steckte der Opapa ihr manchmal grüne, klebrige Bonbons zu. „Da ist echter Schnaps drin!“, sagte er und tat dabei sehr geheimnisvoll, „Apfelschnaps! Darum sind die Bonbons auch grün!“ „Ohhhh…“ Riesengroße Gören-Augen. Happs! Rein damit. Ach, herrlich. Manchmal durfte Mimi auch an Omas Eierlikör nippen. „Musst die Zunge einstippen, bis es brennt!“ Iiieks. Das Mimikind schüttelte sich und quiekte wie ein Schweinchen. 


Dabei hatte Alk es nicht immer gut mit ihr gemeint. Hatte ihr vieles verdorben, sie stolpern und fallen lassen, sie gehörig in die Bredouille und in Situationen gebracht, für sie sich im Nachhinein sehr schämte.


Wütend sah Mimi die Rumflasche an. „Jaha, du kannst auch ganz schön scheiße sein!“, lallte sie, öffnete die Flasche, und kippte den verbliebenen Inhalt in das Glas, das sie zwischen den Oberschenkeln balancierte. 


„Du musst besser auf dich aufpassen“, sagt da die Himbeerbrause, die neben der leeren Rumflasche auf dem Tisch stand, und blubberte genervt. 


„Du bist ja nur neidisch, weil du nicht so toll bist“, zischte Mimi ihr zu. Dann schüttelte sie die Brause, bis ihr duselig wurde, ihr, der Brause, und die Kohlensäure wütend von dannen zog. 


„Du bist jetzt Himbeerpipi!“ Mimi kicherte. 


Sie nahm das Rumglas, kippte es leicht und steckte dann ihre Zunge in das ölige Gift. Das brannte. Iiieks. Dann schüttete Mimi den Rest in sich hinein, leckte ein paar verkleckerte Tropfen von ihrem Handrücken, versuchte aufzustehen, verlor aber das Gleichgewicht, fiel vom Sofa, landete unsanft auf dem Steißbein, schrie "Aua aua!", fluchte und schwor sich: „Morgen mach ich Schluss!“ Dann schlief die betrunkene Madame mit einem Lächeln auf dem Wohnzimmerteppich ein.

Dienstag, 29. November 2011

kirschhirsch und die leckmuschel.

Das Draußen vor dem Fenster sah dunkelgrau und unsauber aus, so, als hätte jemand ein Glas mit Wasserfarbenbrühe über die Straße und die Häuser gekippt und dann mit dem Ärmel drübergewischt. Mimi vom Hafen saß im Schneidersitz auf einem Kissen vor dem Ofen und sang sich selbst eine schräge Melodei, als es an der Tür klopfte.

„Besuch? Um diese Uhrzeit?“ Die Madame trottete, noch immer schief singend, zur Tür und linste durch den Türspion.
Ein Mann in Briefträgeruniform stand da mit einem Paket in der Hand und hüpfte von einem Bein aufs andere. 

„Ja bitte?“ rief Mimi durch die verschlossene Tür.
„Ein Paket für Madame Mimi vom Hafen. Eilzustellung!“
„Ein Paket? Was ist denn drin?“
„Woher soll ich das denn wissen?!?“ Der Postbote schien empört.
„Na, wer hat’s denn geschickt?“
„Kein Absender.“
Die Madame riss die Tür auf und dem verdutzten Mann das Paket aus der Hand. 

„Verzeihen Sie bitte. Aber ich bin so schrecklich ungeduldig.“ Dann knallte sie ihm die Tür vor der Nase zu und widmete sich dem Paket. Erstmal schütteln und lauschen. „Scheint was Kleines drin zu sein“, grübelte Mimi, „der Karton ist ganz leicht und drinnen rappelt’s.“ Sie umfasste das Paket mit beiden Händen, lief in die Küche und schlitzte den Karton mit dem Fleischermesser auf.

Eine Leckmuschel. 

„Was soll ich denn mit einer Leckmuschel?“ Da entdeckte Mimi den Brief, der ganz bescheiden zu unterst im Karton lag. „Liebes Madamchen“, stand da geschrieben. „Schon lange beobachte ich, was du so treibst und schreibst. Und ich muss dir gestehen, dass ich mir Sorgen um dich mache. So kann das doch nicht weitergehen mit dir. Eine elende Lügnerin bist du geworden, dein ganzes Leben ist auf wilden Fantastereien aufgebaut.“

„Das ist nicht wahr“, dachte da die Madame und kraulte ihren Bart. 

„Keine deiner Geschichten ist wahr! Du spielst dich auf, spielst feine Madame und bist doch nichts weiter als ein verrücktes, zerzaustes Ding. Verlangst Anstand und gute Manieren von anderen, weißt aber nicht mal, wie man Moral buchstabiert. Nimmst anderen den Mann, die Frau, das letzte Hemd ohne mit der Wimper zu zucken. Sagst, der Boxer wäre dein Freund, dabei würdest du ihn an manchen Tagen für einen Teller Kartoffelsuppe mit Essig verscherbeln. Prahlst mit Lässigkeit und Furchtlos-Sein und erschrickst dich jeden Abend vor deinem eigenen Schatten! Du lügst dir dein Leben so zurecht, wie es dir grad passt und so etwas ist verwerflich!“

Mimi schluckte. Was da geschrieben stand, stimmte. Nun ja. Manches. Den Boxer hätte sie allerhöchstens für eine fette Gans mit Rotkohl und Klößen verschachert. Dann zerriss sie den Brief, es interessierte sie nicht, was da noch an frechen Anschuldigungen kommen würde. Außerdem stand nicht mal ein Name auf dem Papier.

„Was soll ich denn tun?“ Mimi seufzte mit sich selbst um die Wette. „Mich der glanzlosen Realität mit ihren gelbgrauen Raucherfingern und dem schlechten Atem stellen? Mich dem Dunkel des Hafens ergeben und ebenso lebensmüde umher irren wie die anderen, die es hierher verschlagen hat? Ha! Von wegen! Nicht mit mir. Wenn ich lügen muss, um dem Leben im Hafen mehr Glamour, mehr Sex, mehr Pink zu verleihen, dann mache ich das. Wenn ich auf einer Kanonenkugel durch die Straßen reiten will, mache ich das, wenn ich den Hirsch mit dem Kirschbaumgeweih abknallen will, um ein Festmahl zuzubereiten, soll es so sein. Entschuldigung, Kirschhirsch. Die Gedanken sind frei. Hieß es nicht so?“

Sie griff in den Karton und nahm die Leckmuschel heraus. Wozu die nur gut sein sollte? Dann fiel ihr ein, dass die Omama einst erzählt hatte, Muscheln und Perlen würden die Wahrheit und die Reinheit symbolisieren. 

Mimi drehte das weiße Gebilde hin und betrachtete das glänzende, zuckrige Rot in der Mitte. Die Wahrheit sah verführerisch aus. Und sie duftete nach Erdbeere. Die Madame leckte dran und dachte: „Schmeckt nach nichts.“

Mit der angeschleckten Leckmuschel schlurfte sie ans Fenster, sah raus in die Brühe und beobachtete die mit Pailletten bestickten Einhörner, die mit den Pennern auf der Straße Hüpfkästchen spielen. „Ich wette“, flüsterte Mimi ins Leere, „die Einhörner gewinnen.“

Montag, 28. November 2011

shhhht!

Der Plattenspieler war nun schon ganze vier Tage Schrott. Mimi vom Hafen war darüber sehr traurig. Ohne Musik und knisteriges Geplärre fühlte sie sich allein.

Vier Tage. Eine lange Zeit in Mimi-Zeitrechnungs-Einheiten. Tatsächlich jedoch schien sie sich an das Gefühl, in einem stillen Raum zu sitzen, zu gewöhnen. Mimi nahm zwei Scheiben Labbertoast aus dem Schrank, stopfte eine davon in ihren Mund und setzte sich kauend und mit dicken Backen auf den Küchenboden.

Sie hatte in den letzten Tagen viel Zeit gehabt, um sich Gedanken zu machen. Gedanken über sich und die Welt und das Leben. Auch ein Grund, warum sie den Plattenspieler so lieb hatte. Weil der vom Nachdenken abhielt und den Kopf mit bunten Luftblasen und schönem Schrott füllte. Die Grübelwolken mussten draußen bleiben und zogen darum eine Schnute. Nun aber hatte Mimi sie hineinlassen müssen. Sofort machte er sich überall breit, der stirnrunzelnde Mob.

Die Madame stopfte die zweite Scheibe Toast in die Backen und dachte an früher und daran, wie das Leben in der echten Welt einst war, bevor sie verrückt wurde und im Hafen landete.


Sie mochte Musik und Geschrei, immer schon. Gelassensein war nie ihr Ding, und bereits vor hundert Jahren, als sie gerade laufen gelernt hatte, empfahl der Kinderarzt ihrer Frau Mama: „Schicken Sie das Kind um Himmels willen zum autogenen Training!“ 

Jahre später hatte das unruhige Kind es mit einem Yogakurs der Volkshochschule versucht, ganz ohne ärztliche Weisung. Aber weil die Omis und Opis, die sich neben ihm auf den Isomatten verrenkten, unaufhörlich Erbsensuppen- und Kohlrouladen-Gase in die Luft furzten, beschloss es, den Traum von der Ausgeglichenheit durch Yoga vorerst aufzugeben. 

Als Mimi älter wurde und das Herz immer schneller schlug, gewöhnte sie sich daran, dass das Klopfding in ihrer Brust so oft fast zu zerbersten schien. Schneller und schneller rannte sie von da an, versuchte, sich selbst zu überholen, bastelte sich Flügel aus Rabenfedern und Leim und Glitzer aus der Dose, stieg auf das höchste Dach, das sie finden konnte und stürzte sich laut schreiend hinunter. Meistens landete sie dabei hart auf der Schnauze und sah anschließend tagelang so aus, als hätte die Russenmafia ihr die vorlaute Fresse poliert. 

Nach diesen Stürzen schlich Mimi stets kleinlaut und geläutert heim, fauchte alle an, die ihr zu nahe kamen, weil sie sich wie der letzte Vollidiot auf Erden fühlte. Manchmal aber kicherte sie heimlich, weil es sich gut angefühlt hatte, zu fallen, der Moment, wenn der Magen einen Satz macht und man die Luft anhalten will, damit es nie aufhört.

Als die Stürze immer mehr wurden und es aussah, als würde das Mimimädchen nur noch von Pflastern und den Krusten auf seinen Schürfwunden zusammengehalten werden, wünschte sie sich zum ersten Mal, gerettet zu werden. Zum einen, weil das so angenehm pathetisch klang. Zum anderen, weil ihr jemand zeigen sollte, wie Ruhe funktioniert. Sie sehnte sich sehr danach.

Mimi verbannte die kaputten Flügel auf den Dachboden, stampfte mit dem Fuß auf und biss sich vor Ungeduld auf die Lippe. Tatsächlich bog ausgerechnet in diesem Moment jemand um die Ecke, der Mimi an der Hand nahm, ihr links und rechts eine klatschte und ihr beibrachte, dass Innehalten nicht nach bitterer Medizin schmecken muss. 

Eine Zeit lang funktionierte das. Bis der alte Unruhe-Klumpen erneut zu rumoren begann. Das war kurz bevor Mimi den Wahnsinn mit einem Handschlag in ihr Leben ließ.

„Shhht!“, machte Ruhe-Mimi, die sich in Bequemlichkeit und Trägheit gehüllt hatte, und versuchte, den Brocken runterzuschlucken, aber es wollte ihr nicht gelingen. „Plopp!“, machte es, als der Klumpen explodierte. Vor Schreck fiel Mimi, die damals noch einen Nachnamen hatte, an den sie sich aber nicht erinnern konnte, hintenüber.

Da saß sie nun, zitternd und schluchzend, weil sie sich selbst so leid tat und weil ihr niemand jemals beigebracht hatte, richtig zu fallen, nämlich so, dass es nicht wehtut. 

Da fiel ihr etwas ein. 

Sie krabbelte auf den Dachboden des Elternhauses, und dort, in der hintersten Ecke, fand sie die alten Flügel, die begraben waren unter einem Berg aus Staub und Mäusekacke. Und die unter all dem Schmutz noch immer rabenschwarz waren und glitzerten.
Mimi stieg mit ihrer Beute vom Dachboden, ließ die Flügel vom Nachbarshund sauberlecken, schnallte sie sich auf den Rücken, spazierte in die Stadt und trank einen Kakao mit Sahne.
Fortan behielt sie die Flügel, die nun immer ein wenig nach Hundesabber rochen, auf dem Rücken und legte sie nur zum Duschen ab. 

Sie sprang noch lange von Häusern. Meistens waren es Bungalows. Aber sie wusste, dass sie jederzeit auf die höchsten Dächer klettern und sich mit geschlossenen Augen in das Schwarze mit den Lichtern darin stürzen konnte.


Lange war das her. Die Flügel hatte sie bei ihrem unfreiwilligen Umzug in den Hafen auf dem Nachttisch vergessen. War aber in Ordnung. Flügel waren nicht mehr en vogue.

Als der Plattenspieler fünf Tage Schrott war, zog Mimi die Kabel, vertickte ihn auf dem Flohmarkt und kaufte sich von dem Geld einen Ghettoblaster.

Dienstag, 22. November 2011

kontaktfreudenmädchen gesucht. und französische frettchen auch.

„Ich brauche etwas Neues, der alte Kram langweilt mich.“ 

Mimi vom Hafen kratzte sich beidseitig an den löchrigen Ohrläppchen. Die juckten bei Langeweile fürchterlich. 

„Vielleicht drehe ich einen Film!“ Die Madame seufzte. Ach nein. Filme waren ihr schnuppe. 

„Oder ich gehe in die Politik!“ Nein, da war auch nichts zu machen. Parteien und Wahlkampf und geschwungene Reden gab es im Hafen nicht, hier schlug man der Opposition die Visage zu Brei, bevor die überhaupt was sagen konnte, und das war ja auch eigentlich viel wirkungsvoller. 

„Ein Café zur Anbahnung zwischenmenschlicher Verbindungen*!“ Mimis Stimme überschlug sich. „Ja! Ein Café zu alleroberst! Für die, die einsam sind beizeiten, denen es an Zuneigung mangelt oder die sich schlicht nach duftigem Kuchengekrümel zu Tee oder Kaffee sehnen. 
Dann brauche ich natürlich noch Gesellschafterinnen. Kontaktfreudige Mädchen müssten es schon sein, belesen im besten Fall, so hübsch und zart wie das rosige Lächeln eines Meerschweinchens. Und verrückt natürlich, andernfalls würden sie den Weg zum Hafen ja nicht fnden. Ich würde sie auf samtenen Diwanen drapieren, zu ihren Füßen finnisch faselnde Frettchen französischer Herkunft. Die wirken immer vornehm. Die Besucher des Cafés hätten die Wahl: Eine angeregte Plauderei mit einem der Kontaktfreudenmädchen oder mit einem der Frettchen oder doch nur ein Stück Blaubeertorte.“ 

Mimi klatschte in die Lederhandschuh-Hände. Jetzt musste sie nur noch eine geeignete Besetzung finden, um ihren Plan in die Tat umzusetzen...

Nun...? Freiwillige vor!


* Etwas ähnliches hatte Mimi mal in einem Buch gelesen, das hieß "Fabian" und sie liebte es sehr.

Mittwoch, 5. Oktober 2011

sag zum abschied leise krtzzzzz.

Krtzkrtzkrtzkrrrrrrr…, machte der Bleistift. Mimi zog einen grauen Bogen über das Weiß. Die Nase juckte ihr, ein Tropfen plumpste hinterher, vertropfte den schönen Bogen und machte aus ihm einen feuchten Klumpatsch auf Papier.

„Müde bin ich“, dachte sie, „so müde, mir schläft der Kopf gleich ein.“ Das tat er auch, wenngleich nur halbherzig. Oder eher viertelherzig, denn nur das rechte Auge schlief auf der Stelle ein. Und während es unter dem Wimpernbettdeckchen schnarchte, glotzte das linke in den Himmel.

„Wie oft kann man dem Abschied die Flosse schütteln, ohne verrückt zu werden?“, fragte sich die Madame, die heute ein Mädchen mit Schmutzfüßen war, und blinzelte einäugig und Wimperntusche-vertropft gen Wolkenbrei. Dabei war die Frage ganz sinnlos, verrückt war sie ja schon, da hatte sie nichts mehr zu befürchten. Aber traurig machte sie der Gedanke. Und hätte da, wo heute eine provisorische Pumpe (die aus dem Motor eines Spielzeugautos gemacht war) hustete, ein Herz geschlagen, hätte Mimi wohl Rotz und Salzwasser geheult.

Sie hatte es satt, goodbye zu sagen zu Liebgewordenem, auch wenn diese Haltung unmodern und bieder schien.

Hätte man sie nach ihrer Meinung befragt, so hätte sie alles, was ihr gut und teuer war, in eine Keksdose gestopft, Mensch, Tier und Erinnerungen ans Glücklichglücklichpopücklichsein. Von Zeit zu Zeit hätte sie den Deckel angehoben und das Duftige, Vertraute durch die in diesen Tagen so oft verschnodderten Nüstern eingesogen.

Aber es fragte einen ja niemand. 

Vielleicht… oh ja, das war eine Idee! Mimi sprang auf: „Die Wäscheleine des Boxers, ja, die ist gut!“ Rannte auf den Hof hinaus, von wo sie das Haus ihres Nachbarn sehen konnte, vergewisserte sich, dass die Luft rein war (man sagt das so, dabei weiß jeder, dass die Luft im Hafen niemals rein, sondern stets dick wie ein alter Blähbauch und außerdem rußig und meeresalgig-muschelig ist!), schlich hinüber und mopste des Boxers Wäscheleine. Mimi wickelte die Schnur ums Handgelenk und rannte in ihr Haus zurück.

Und als sie da so saß, mit der neuen Errungenschaft und Wangen so rot wie Kirmesäpfeln, beglückwünschte sie sich selbst zu ihrer Idee: Sie würde von nun an alles an sich binden, alles festzurren: „So geht mir nichts und niemand mehr verloren, und nie wieder muss ich mich verabschieden und dann allein sein und mich vergessen fühlen!“

Gutes Gefühl durchgluckerte sie. Da fiel ihr ein, dass sie ihr rechtes Auge wecken sollte, das hatte nun lange genug geschlafen. „Plick“, machte das Auge, sah von oben Mimis Grinsen und den sabberigen Faden, der ihr aus dem Mundwinkel baumelte, bemerkte die Wäscheleine in der Hand der kleinen Madame, seufzte und dachte: „Hoffentlich werde ich bald blind.“

Mittwoch, 21. September 2011

wie fangen wir's nur an?

und während sie da lag, dachte mimi: "ich werd alles aufschreiben, alles. keine häppchen, nein, am stück, mit haut, knochen und knorpeln. nur: wie fang ich's an?"
 
 



Sonntag, 28. August 2011

mimi vom hafen. der cast.

"Vielleicht sollte ich mal eine Liste der Menschen und Orte machen, die mir hier immer wieder unterkommen", grübelte die Madame an einem Abend im August. Sie schlich barfuß um ihr rosarotes, windschiefes Haus, das am Eingang zum Hafen auf einem Erdhügel stand, und dachte nach.

Da war Herr Katzenmann, der alte Kater, der auch im Sommer Pelz trug und der ihr Mitbewohner und Gefährte war. Und eine größere Diva als sie selbst.

Dann der Boxer, ihr Nachbar und Vertrauter mit der Schlägervisage, der sie beschützte, wenn es ihr mal wieder gelungen war, sich in Schwierigkeiten zu manövrieren. Mimi hatte den Boxer in den Klumpen geschlossen, der nun an der Stelle saß, wo einst ihr Herz gerumst hatte.

Zinga Hay, der Förster aus dem Metzelwald, und sein Zombieteckel Erich. Erich verlor manchmal das linke Ohr, das war verfault. Aber nie wurde der Förster es müde, es ihm wieder anzunähen. Mimi imponierte soviel Hingabe, und wenn Zinga Hay mit Runzelstirn die Nähnadel zückte, seufzte sie stets ganz verzückt.

Frau Hedwig, Herr Blechschild und Manowar, drei Fische, die in dem Pfützenteich hinter Mimis Haus wohnten und dort liebevoll ihre Profilneurosen pflegten.

Viele ganz reizende Fräuleins, mit denen sich Mimi gern verlustierte. Mademoiselle Miez zum Beispiel. Das rotgelockte Schönchen, Marlene mit den Schlangenhaaren, das Püppchen aus der Stadt, Mari Dalor. Oder das kulleräugige Frollein Keks, die Dame Miezmiezmiez und das Bardämchen Liza Lasterhaft.

So viele mehr gab es, aber weil Mimis Kopf an diesem Abend eine Wüste und ganz leer war, schlief sie ein und schnarchte sich leise neue Lügenmärchen zuammen.

wie ein vollbad in sünde die madame fast das leben gekostet hätte.

Die Regentropfen hämmerten wie blöde gegen die Fensterscheibe. Auf die Fensterbank gekauert sah Mimi dem tropfenden Treiben zu. Sie hatte schlechte Laune. Warum, wusste sie nicht so genau, vielleicht, weil es so bitterkalt war, dass ihre Zähne klapperten. Da draußen war ein schöner Radau. Die Menschen waren aus ihren Häusern in den Regen hinaus gestürmt, in den Händen dicke Stücke Seife und Bürsten. „Was machen diese Verrückten denn da?“, fragte sie sich. Ach herrje, die waren ja alle nackt!

Mit einem Satz sprang Mimi von der Fensterbank, riss die Haustür auf und stolperte ins Nasse. Da stand ein Dutzend Männer und Frauen, lachend, singend, schrubbend. Tropfen platschten auf ihre Gesichter, die sie dem Himmel zugewandt hatten. Mit den Bürsten malträtierten sie ihre Leiber, die schon ganz rot und zerkratzt waren, es roch nach Kernseife.

„Hee, ihr nackten Wahnsinnigen! Was macht ihr denn da?“ Mimi wischte sich den Regen aus dem Gesicht, er rann über ihre Wimpern, die Wangen hinab, in ihr Kleid hinein. Sie schüttelte sich, morgen würde sie krank sein, ihre Lunge würde sich entzünden und wund werden und sie, Mimi, würde vermutlich sterben. Dennoch musste sie erfahren, was hier geschah.

Ein fetter Mann mit Besoffski-Nase drehte sich zur Madame um und rief „Heute ist doch Waschtag!“

„Waschtag? Könnt ihr das nicht in euren Häusern machen? Das ist nicht unbedingt ein schöner Anblick, mein Herr, so viel faltige Nacktheit vor meinem Fenster! Das müssen Sie einsehen!“

„Ich sehe, Sie scheinen neu im Hafen zu sein, Madame. Einmal im Jahr treibt es uns hinaus in den Sommerregen, auf dass er uns von unseren Sünden reinwasche.“

"Das ist mir neu. Ich kenne wohl den Brauch, sich in den Mairegen zu stellen, der streckt nämlich und lässt kleine Menschen wachsen…"

"Ein hervorragender Gedanke!", rief da eine Frau, die Mimi nur bis zum Bauchnabel reichte.

"... aber sich im Sommerplätscher die Sünden abzuschrubben? Das ist doch wirklich eine Schnapsidee!"

"Aber höchst wirksam. Schauen Sie sich doch mal um, Madame!", sagte da der beleibte Herr und machte eine ausladende Bewegung mit seiner Speckhand.

Und da fiel es Mimi auf. Die Straße war überschwemmt mit einem Film aus purpurnem Glitsch. Der floss aus den Poren der Männer und Frauen hinaus, strömte an Armen und Beinen herab, über die Füße, auf den Asphalt. Mimis Kiefer musste vor Schreck heruntergeklappt sein, das bemerkte sie, als der kalte Wind sie, durch die Schneidezähne hindurch pfeifend, in die Zunge zwickte. An Zuklappen war jedoch nicht zu denken. Da stand sie nun, fröstelnd und mit offenem Mund und Glotzaugen, die schwarz verschmiert von der zerlaufenen Wimperntusche waren, durchweicht vom dem, das aus den Wolken über ihr heraustropfte.

Die Männer und Frauen, bei denen es sich ausgeglitscht hatte, sahen schrecklich aus, fand Mimi. Ihre Haut war zwar wunderschön weiß und rein, gleichzeitig aber auch ganz matt und stumpf, kein Glanz war mehr da.

Wie traurig, dachte die platschnasse Hafenmadame. Das passiert also, wenn man sich im Sommerregen von seinen Sünden reinwäscht. Man verwandelt sich in einen stumpfgeschrubbten Klumpen. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Dann schlurfte sie zurück in ihr Haus und zog dabei eine Spur aus purpurnem Glitschregen hinter sich her. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, warum die Menschen das taten. Ein Leben ohne Sünden, ohne Fehler, Trägheit und Schlecht-Sein erschien ihr so trostlos, dass sie den Gedanken daran kaum ertragen konnte. Dass in diesem Moment ein Gewitter aufzog, verstärkte dieses Gefühl nur noch.

Mit einem Seufzer öffnete sie die Tür zum Badezimmer. Sie schlüpfte aus Kleid und Hemdchen, schmiss die Herrenunterhose, die sie trug und die eine Trophäe der vorletzten Nacht war, ins Waschbecken und ließ Wasser in den Badebottich ein. Und während draußen irgendwo ein Blitz einschlug, stand Mimi vor dem Regal, auf dem sie Seifen und Badezusätze aufbewahrte. 

„Ich möchte nie im Leben ein stumpfer Klumpen werden!“, dachte sie, stemmte die linke Hand in die Hüfte und griff nach einem Fläschchen, auf dessen Bauch in verschnörkelten Lettern geschrieben stand: „Dem Laster verfallen“. Etwas weiter unten waren die Ingredienzien aufgeführt: „Hochmut, Habgier, Wolllust, Zorn, Maßlosigkeit, Missgunst und Trägheit des Herzens“. Und, als letzte Zutat: „Lila Lebensmittelfarbe“. Noch etwas weiter unten stand: „Dosierung: 2 Esslöffel auf einen Bottich Wasser. Achtung: Zu viel Badezusatz kann eine Verduselung hervorrufen.“

„Genau das Richtige!“, befand die Madame, öffnete das Fläschchen und goss es bis zum letzten lila Tropfen ins Badewasser. Zwei Esslöffel! Püh! Sie war doch kein Anfänger. Ein Vollbad in Sünde und Laster, das war es, was sie jetzt brauchte.

Das Bad blubberte und duftete herrlich! Langsam ließ sie sich ins Wasser sinken. Ganz seidig fühlte sich das an, als das vornehme Gemisch sich wie ein Film aus sündigem Schmier um ihre Haut legte. 

Draußen hörte sie die Klumpenmenschen freudig johlen. 

Als ihr die Dämpfe zu Kopf stiegen, wurde Mimi duselig zumute. Sie schloss die Augen und verlor für einen Moment das Bewusstsein. Und wäre nicht zufällig Herr Katzenmann des Weges geschnurrt und hätte sie mit einem Tatzenhieb auf die Wange aufgeweckt, wäre die Madame wohl ertrunken.

Dienstag, 19. Juli 2011

der rest ist rülps.

„Was sollen wir jetzt mit ihm machen?“, fragte das kulleräugige Frollein Keks, rümpfte die Krümelnase und kniff die Beute in den Arm. Die rief „Aua!“ und „Warum tut ihr das?“

„Wir verhauen es!“ sagte Mimi und fletschte die Zähne wie ein Straßenköter.

„Huch, lass das mit dem Zähnefletschen, Mimi!“ Das war die Dame Miezmiezmiez, die eine Freundin explizit zarter Ästhetik war und dem allzu Groben nichts abgewinnen konnte.

„Wir berülpsen es, bis es ohnmächtig wird!“, rief das Bardämchen Liza Lasterhaft und leckte mit der Zunge den letzten Tropfen Rum aus dem Glas. Dann fügte das Dämchen mit erhobenem Zeigefinger hinzu: „Hicks!“

Frollein Keks, die Dame Miezmiezmiez und Mimi vom Hafen sahen sich an. „Das ist es!“, jubelten sie, nahmen jede einen tiefen Schluck aus der Rumflasche, umstellten das Püppchen, auf das sie Jagd gemacht hatten, weil es frech war und das nun an eine Straßenlaterne gefesselt vor ihnen stand, bitterlich weinte und um Gnade flehte, klopften sich gegenseitig feste auf die Brust und…

Der Rest war Rülps.

Dienstag, 12. Juli 2011

die liebe ist vermutlich eine ausgeburt der hölle.

Mimi und die Liebe waren sich seit jeher spinnefeind. Die Liebe dachte, dass Mimi einen Sockenschuss und widerwärtige Angewohnheiten hatte, wie anderen Leuten die Hühnerknorpel vom Teller zu klauen und laut knurpsend herunterzuschlingen. Mimi fragte sich, warum die Liebe stets dieses hässliche Halsband aus Romantik trug. "Ohne wäre sie gar nicht so schäbig", dachte sie manchmal, behielt das aber für sich.
Die Visage der Liebe war eine Fratze, die nur aus der Entfernung reizvoll schien. Sie war zugespachtelt mit parfümiertem Talkum und Theaterschminke, Wangen und Lippen waren kirschrot geschminkt. Ihren Haaransatz hatte die Liebe gebleicht, damit die Stirn höher und vornehmer schien als sie eigentlich war. Überhaupt war die Liebe eine ziemliche Mogelpackung. Aber sie duftete gut, wie ein Abend im Varieté, nach Aufgeregtheit und Herrenparfum und gelackten Damenkrallen. Ihre Ausdrucksweise war geziert, doch verstand sie es, sich den Situationen und den Menschen, die sie umgaben, anzupassen. Im Sommer trug sie flatterige Flatterkleider, löste die langen Locken und rannte wie blöde durch Felder voller Kornblumen und von Mähdreschern dahin gemetzelter Rehkitzleichen. Sie fraß Oliven und Wassermelone mit den Händen, gierig, kicherte wie das Mädchen, das sie seit Jahrhunderten nicht mehr war und ging Mimi noch mehr auf den Keks, als sie es den Rest des Jahres schon tat. Im Herbst und Winter ging es dann, dann besann sich die Liebe gern auf die Kunst, die sie am besten beherrschte: das Drama.
Mimi hörte die Liebe lieber heulen und fluchen als blöde kichern. Sie hasste es, wenn das Ding mit der Fratze und dem Halsband glücklich war. Dann war es unerträglich. Aber vielleicht wurde man automatisch so, wenn alle Welt täglich Lieder über einen sang und Gedichte schrieb, in denen es hieß, dass die Liebe das Einzige und Schönste im Leben sei und dass man ohne ihre Gunst sterben müsse.
Die Liebe hatte anfangs nicht verstanden, warum Mimi ihr gegenüber so auf der Hut war. Sie nahm doch jeden Dahergelaufenen mit in ihr Boudoir, trug ihr Herz auf der Zunge und zeigte es ungefragt jedem und zu jeder Zeit. Nur sie, die Liebe, konnte keinen Stich machen. Seltsam. Sie trug doch stets ihr hübsches Halsband aus Romantik, das gefiel den Menschen gemeinhin, alle wollten es anfassen und damit spielen, besonders die Mädchen.
Dabei hätte sie sich so gern mit der Hafenmadame in ihren Roben aus Schlick und Algen geschmückt. Nicht, dass sie Mimi sonderlich sympathisch fand. Aber sie war neu im Hafen, die Matrosen sprachen über sie, und mit ihren Tätowierungen und den Seerosen im Haar machte sie was her. Also versuchte sie, das Madamchen als Freundin zu gewinnen. Frauen machen das für gewöhnlich so. Sie hatte ihr Doppel-Rendezvous mit Galanen in Anzügen vorgeschlagen, dann aber, als sie merkte, dass Mimi das Verwegene und Derbe vorzog, Piraten mit Bärten in ihr Leben geschubst. Die Liebe wollte ihr Geschenke machen, Freundinnen machten das doch so, oder? Aber es brachte alles nichts. Mit jeder neuen Liebelei wurde Mimi nur bockiger, bis sie die Liebe eines Tages anschrie, sie solle sich gefälligst verpissen, mit ihrem „Für-immer“-Rotz und den Kerzen, an denen man sich doch nur die Pfoten verbrannte. Und sie, Mimi, keifte sie, die Liebe an, sie, die Liebe, sei schädlich für Mimis Gesundheit. Das Herz sei ihr wundgeklopft, ihr Stolz wie weggepustet und ihr Kopf nur noch ein nasses Brötchen, zu nichts mehr zu gebrauchen. Da gab die Liebe auf. Fortan wünschten sich die beiden noch „Guten Tag“ und „Guten Weg“, mehr zu sagen gab es nicht.
Eines Abends, als die Liebe auf dem Weg in die Stadt am Haus der Hafenmadame vorbeikam, sah sie diese mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter im Blumenbeet sitzen.
„Was machst du da? Blumen düngen?“ Die Liebe lachte laut und ordinär,
Aha, da haben wir’s ja wieder, dachte Mimi. In Gesellschaft das feine Dämchen markieren, dabei hat dieses überschminkte Ding Manieren wie ein Marktweib! Und immer dieses Halsband aus Romantik! So was Hässliches!
„Ich möchte allein sein, also verzieh dich!“
„Ach Mimi, du störrisches Fräulein. Was ist denn nur los?“, fragte die Liebe und hockte sich neben Mimi ins Blumenbeet. Die aber schüttelte nur den Kopf und grummelte „Nüchts.“
Hm. Die Liebe ahnte, woher der traurige Ausdruck auf dem Gesicht der Hafenmadame rührte. „Dir fehlt Liebe, Mimi!“
„Jetzt pass mal auf!“ Wie ein Sumo-Ringer machte Mimi einen Satz zur Seite, die Hände auf die Knie gestemmt. „Ich fand dich mal ganz nett. Du riechst gut. Aber ich kann bestens ohne dich leben, du hässliche Schnalle! Es geht mir auch ohne Liebe ausgezeichnet.“
„Hässlich? Es ist das romantische Halsband, oder? Jetzt hab ich’s: Du kannst mit Romantik nichts anfangen! Warte, ich mach es ab, kein Problem!“ Dann löste die Liebe umständlich den Verschluss, nahm das Band, das ganz rosa war, in ihre Hände und legte es zu Mimis Füßen. Sogleich häufte die Madame Erde über das Geschmeide, das auf dem Hals der Liebe einen käseweißen Ring hinterlassen hatte. Als es ganz unter einem Berg Torf verschwunden war, betrachtete Mimi die Liebe. Die war immer noch unschön und zu stark geschminkt, aber sie wirkte irgendwie… nun… cooler. Wie jemand, mit dem Mimi Freundschaft schließen könnte. „Ich habe noch ein Bier im Kühlschrank“, flüsterte die Madame kleinlaut. „Wollen wir uns das teilen?“
„Nö, ich mag kein Bier“, flötete die Liebe, gab Mimi eine Kopfnuss und hüpfte lachend von dannen.
 
 

ich.

Mein Bild
Madame Mimi vom Hafen und ihre in Rum getränkten Lügengeschichten.