Die Wirtin auf der anderen Seite des Tresens sah böse aus.
„Guck nicht so doof!“, schimpfte Mimi mit schwerer Zunge. „Oh, sieh mal, mein Oberteil ist ja runtergerutscht, na hoppla!“
„Zieh dich an, Mimi!“ Jetzt war es die Wirtin, die schimpfte. „Verdammt, wo soll das noch hinführen? Du kannst dich doch nicht so in aller Öffentlichkeit zeigen!“
„Wieso nicht?“ Mimi lallte. Verflixt noch eins, wie betrunken sie war!
Die Wirtin beugte sich zu ihr herüber, richtete Mimis Bluse, die über ihre Schulter gerutscht war, strich über die glühenden Wangen der Madame und sagte: „Armes Ding. Du darfst dich doch nicht jedem so offenbaren, zeig dich nicht so vor den Leuten. So halbnackt und verloren, das ist doch nicht gut.“
„Ach Wirtin. So etwas ähnliches habe ich heute schon einmal gehört. Ich solle meine Verletzlichkeit nicht so zur Schau stellen, das würde sich eines Tages an mir rächen. Aber was soll ich denn nur tun?“
Die Verletzlichkeit wohnte in Mimis Kopf, gleich hinter dem linken Auge. Dort hatte sie einst ein Zimmer bezogen, und wenn Mimi in sich hinein glotzte, was sie beizeiten gern tat, konnte sie sie sehen. Mimis Verletzlichkeit hieß Marianne und war Borderlinerin. Ein schwieriges Ding, das neonfarbene Haarbänder liebte und schrie, wenn ihm danach war. Marianne brauchte sehr viel Aufmerksamkeit. Wenn Mimi mit jemandem sprach, und sei es nur ein Plausch über das Wetter, brüllte Marianne so laut sie konnte, auf dass man sie bemerkte, winkte mit den grellen Schleifen, die sie sich zuvor aus den Locken gerissen hatte und trampelte so heftig auf, dass Mimi entkräftet aufseufzte. Manchmal kullerte eine Träne aus Mimis linkem Auge, meist dann, wenn Marianne vor Wut gegen ihre Zimmerwand getreten hatte.
Die anderen sahen natürlich nicht, was im Kopf der Hafenmadame geschah, und manche dachten, dass Mimi ein sehr verletzliches Wesen sein musste. Viele fanden, dass ein solches Verhalten nicht zu einer Madame vom Hafen passen wollte und rügten sie deshalb. Andere wiederum fanden die Tränen und Seufzer besonders reizvoll.
„Ich kann’s aber auch keinem recht machen!“ Mimis Stimme klang wütend. Sie kramte in ihren Taschen, fand ein paar Münzen, die sie der Wirtin auf den Tresen knallte, und kletterte mit Wackelbeinen vom Barhocker.
„Noch ein Wort, Marianne, und du fliegst raus!“ schrie Mimi und ihre Stimme überschlug sich. Dann torkelte sie zeternd zur Tür hinaus. Die Wirtin schüttelte den Kopf. „Armes Ding.“
Ich liebe es, wie du mir die Stimme nimmst. Als würden wir unser Gedankengut verdoppeln, um gemeinsam zu leiden und zu lachen.
AntwortenLöschenEs ist unbeschreiblich... Es ist so... so Mimi eben. <3 <3 <3
du bist wundervoll, mademoisellchen..
AntwortenLöschenköstlich. danke für das amusement.
AntwortenLöschenWie viele Stimmen haben wir? Wie viele Mariannen, Michaels und Hoppenstedts können wir in unserem Kopf aufnehmen, ohne daran zu zerbrechen? Wie viele Menschen, Männer, Frauen, Jungs und Mädchen wollen uns retten, weil wir mit unserem Leben augenscheinlich nicht klarkommen? Es ist doch so anstrengend, zu wissen, dass man nicht verletzlich ist und dass es manchmal einfach voll gut ist, dass man Bestätigung wegen eines halbnackten Profils bekommt. Ist das Verletzlichkeit, wenn man sich zeigt? Was weiß denn ich? Ich bin ein wirres Dings...
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