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Montag, 28. November 2011

shhhht!

Der Plattenspieler war nun schon ganze vier Tage Schrott. Mimi vom Hafen war darüber sehr traurig. Ohne Musik und knisteriges Geplärre fühlte sie sich allein.

Vier Tage. Eine lange Zeit in Mimi-Zeitrechnungs-Einheiten. Tatsächlich jedoch schien sie sich an das Gefühl, in einem stillen Raum zu sitzen, zu gewöhnen. Mimi nahm zwei Scheiben Labbertoast aus dem Schrank, stopfte eine davon in ihren Mund und setzte sich kauend und mit dicken Backen auf den Küchenboden.

Sie hatte in den letzten Tagen viel Zeit gehabt, um sich Gedanken zu machen. Gedanken über sich und die Welt und das Leben. Auch ein Grund, warum sie den Plattenspieler so lieb hatte. Weil der vom Nachdenken abhielt und den Kopf mit bunten Luftblasen und schönem Schrott füllte. Die Grübelwolken mussten draußen bleiben und zogen darum eine Schnute. Nun aber hatte Mimi sie hineinlassen müssen. Sofort machte er sich überall breit, der stirnrunzelnde Mob.

Die Madame stopfte die zweite Scheibe Toast in die Backen und dachte an früher und daran, wie das Leben in der echten Welt einst war, bevor sie verrückt wurde und im Hafen landete.


Sie mochte Musik und Geschrei, immer schon. Gelassensein war nie ihr Ding, und bereits vor hundert Jahren, als sie gerade laufen gelernt hatte, empfahl der Kinderarzt ihrer Frau Mama: „Schicken Sie das Kind um Himmels willen zum autogenen Training!“ 

Jahre später hatte das unruhige Kind es mit einem Yogakurs der Volkshochschule versucht, ganz ohne ärztliche Weisung. Aber weil die Omis und Opis, die sich neben ihm auf den Isomatten verrenkten, unaufhörlich Erbsensuppen- und Kohlrouladen-Gase in die Luft furzten, beschloss es, den Traum von der Ausgeglichenheit durch Yoga vorerst aufzugeben. 

Als Mimi älter wurde und das Herz immer schneller schlug, gewöhnte sie sich daran, dass das Klopfding in ihrer Brust so oft fast zu zerbersten schien. Schneller und schneller rannte sie von da an, versuchte, sich selbst zu überholen, bastelte sich Flügel aus Rabenfedern und Leim und Glitzer aus der Dose, stieg auf das höchste Dach, das sie finden konnte und stürzte sich laut schreiend hinunter. Meistens landete sie dabei hart auf der Schnauze und sah anschließend tagelang so aus, als hätte die Russenmafia ihr die vorlaute Fresse poliert. 

Nach diesen Stürzen schlich Mimi stets kleinlaut und geläutert heim, fauchte alle an, die ihr zu nahe kamen, weil sie sich wie der letzte Vollidiot auf Erden fühlte. Manchmal aber kicherte sie heimlich, weil es sich gut angefühlt hatte, zu fallen, der Moment, wenn der Magen einen Satz macht und man die Luft anhalten will, damit es nie aufhört.

Als die Stürze immer mehr wurden und es aussah, als würde das Mimimädchen nur noch von Pflastern und den Krusten auf seinen Schürfwunden zusammengehalten werden, wünschte sie sich zum ersten Mal, gerettet zu werden. Zum einen, weil das so angenehm pathetisch klang. Zum anderen, weil ihr jemand zeigen sollte, wie Ruhe funktioniert. Sie sehnte sich sehr danach.

Mimi verbannte die kaputten Flügel auf den Dachboden, stampfte mit dem Fuß auf und biss sich vor Ungeduld auf die Lippe. Tatsächlich bog ausgerechnet in diesem Moment jemand um die Ecke, der Mimi an der Hand nahm, ihr links und rechts eine klatschte und ihr beibrachte, dass Innehalten nicht nach bitterer Medizin schmecken muss. 

Eine Zeit lang funktionierte das. Bis der alte Unruhe-Klumpen erneut zu rumoren begann. Das war kurz bevor Mimi den Wahnsinn mit einem Handschlag in ihr Leben ließ.

„Shhht!“, machte Ruhe-Mimi, die sich in Bequemlichkeit und Trägheit gehüllt hatte, und versuchte, den Brocken runterzuschlucken, aber es wollte ihr nicht gelingen. „Plopp!“, machte es, als der Klumpen explodierte. Vor Schreck fiel Mimi, die damals noch einen Nachnamen hatte, an den sie sich aber nicht erinnern konnte, hintenüber.

Da saß sie nun, zitternd und schluchzend, weil sie sich selbst so leid tat und weil ihr niemand jemals beigebracht hatte, richtig zu fallen, nämlich so, dass es nicht wehtut. 

Da fiel ihr etwas ein. 

Sie krabbelte auf den Dachboden des Elternhauses, und dort, in der hintersten Ecke, fand sie die alten Flügel, die begraben waren unter einem Berg aus Staub und Mäusekacke. Und die unter all dem Schmutz noch immer rabenschwarz waren und glitzerten.
Mimi stieg mit ihrer Beute vom Dachboden, ließ die Flügel vom Nachbarshund sauberlecken, schnallte sie sich auf den Rücken, spazierte in die Stadt und trank einen Kakao mit Sahne.
Fortan behielt sie die Flügel, die nun immer ein wenig nach Hundesabber rochen, auf dem Rücken und legte sie nur zum Duschen ab. 

Sie sprang noch lange von Häusern. Meistens waren es Bungalows. Aber sie wusste, dass sie jederzeit auf die höchsten Dächer klettern und sich mit geschlossenen Augen in das Schwarze mit den Lichtern darin stürzen konnte.


Lange war das her. Die Flügel hatte sie bei ihrem unfreiwilligen Umzug in den Hafen auf dem Nachttisch vergessen. War aber in Ordnung. Flügel waren nicht mehr en vogue.

Als der Plattenspieler fünf Tage Schrott war, zog Mimi die Kabel, vertickte ihn auf dem Flohmarkt und kaufte sich von dem Geld einen Ghettoblaster.

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Madame Mimi vom Hafen und ihre in Rum getränkten Lügengeschichten.